"Die Digitalisierung im Verpackungsprozess gewinnt an Dynamik"
Interview mit Dr. Marius Grathwohl, Vice President Digital Products & Transformation, MULTIVAC
Herr Dr. Grathwohl, insbesondere in den letzten anderthalb Jahren erhielt das Thema Digitalisierung einen starken Schub. Erwarten Sie eine dauerhafte Verschiebung ins Digitale oder verflacht der Hype nach überstandener Corona-Krise?
Corona hat die bereits einsetzende, natürliche Entwicklung digitaler Technologien beschleunigt: Aufgrund von Reise- und Zutrittsbeschränkungen in den Unternehmen wurden beispielsweise Dienste wie Fernwartung oder Smart Services von heute auf morgen relevanter als jemals zuvor. Einen vergleichbaren Trend haben wir auch im kollaborativen Umfeld gesehen, wo die Videokonferenz zum neuen Standard der Kommunikation geworden ist.
Sicherlich wurde aber – insbesondere in Zeiten der Lockerungen – deutlich, dass für gewisse Aufgabenstellungen der persönliche Kontakt nicht zu unterschätzen ist. Wir werden bis auf Weiteres noch immer Servicetechniker benötigen, um komplexe Reparatur- oder Diagnosetätigkeiten an unseren Maschinen vorzunehmen. Genauso werden wichtige Verhandlungen oder Personalgespräche auch in Zukunft präferiert persönlich stattfinden.
Der positive Aspekt der Pandemie in diesem Zusammenhang ist, dass wir alle nun beide Welten kennen und auch „digitale Nachzügler“ auf Tuchfühlung mit digitalen Werkzeugen gegangen sind. Ich denke, dass künftig ein gesunder Mix zielführend ist – und wir gestärkt und mit dem Wissen aus der Corona-Krise gehen, wann welcher Grad der physischen Präsenz sinnvoll und angezeigt ist.
Was sind aus Ihrer Sicht grundsätzlich die größten Treiber der zunehmenden Digitalisierung?
Die zunehmende Verbreitung digitaler Dienste im B2C-Sektor ist sicherlich ein wesentlicher Treiber für das B2B-Geschäft. Konsumenten gewöhnen sich immer mehr daran, auf Elektronik via Smartphone App oder WLAN zuzugreifen, die Geräte fernzusteuern und auch zu überwachen. Dieser Trend weckt auch in Produktionsumgebungen vergleichbare Erwartungen. Es wird vorausgesetzt, dass Maschinenzustände abrufbar sind oder der Hersteller durch den Zugriff auf die Maschine bei der Optimierung unterstützen kann.
Darüber hinaus ist selbstverständlich branchenübergreifend ein Effizienzdruck festzustellen. Unternehmen suchen nach Möglichkeiten, die Transparenz und schließlich die Effizienz in ihren Produktionsumgebungen zu steigern, um Kosten zu sparen oder schneller zu werden. Derlei Optimierungsvorhaben bedingen das Monitoring wesentlicher Produktionskennzahlen, um den Fortschritt überhaupt messen zu können und initial Referenzwerte abzubilden.
In welchen Branchen, Regionen und Zielgruppen sieht sich MULTIVAC mit einer starken Nachfrage nach digitalen Lösungen konfrontiert?
Die meisten Anfragen verzeichnen wir bei unseren Kunden aus der Lebensmittelindustrie. In dieser Branche haben wir bereits mehrere Digitalisierungsprojekte erfolgreich umgesetzt. Unsere Kunden aus dem Medizingüter- und Pharmasektor zögern noch in puncto Digitalisierung. Denn gerade diese Unternehmen sind sehr sensibel, wenn es um die Anbindung ihrer Maschinen an die Cloud und Datenverarbeitung geht. Dennoch sind wir optimistisch, bald auch eine unserer Verpackungsmaschinen aus dem Bereich Medical anbinden zu können.
Was die Regionen betrifft, so können wir für das Jahr 2021 stolz auf die USA verweisen. Anfang 2021 konnte MULTIVAC USA die ersten Maschinen bei Kunden erfolgreich anbinden, bis zur Jahresmitte waren es bereits rund 20 Verpackungsmaschinen – Tendenz deutlich steigend. Darüber hinaus arbeiten wir auch mit weiteren Tochtergesellschaften in aller Welt erfolgreich an der Konnektierung von Verpackungsmaschinen: etwa in Tschechien, Neuseeland, Chile, Großbritannien und sogar auf den Philippinen.
Eines möchte ich aber betonen: Grundsätzlich fokussieren wir uns mit unseren digitalen Lösungen nicht auf bestimmte Zielgruppen oder Unternehmensgrößen. Denn Digitalisierung birgt Optimierungspotenzial für kleinere Firmen ebenso wie für den Mittelstand oder große Konzerne. Die Bandbreite an Optionen reicht dabei von Predictive Maintenance und Fernwartung bis hin zu Maschinen wie den Tiefziehverpackungsmaschinen und Traysealern unserer X-line. Diese parametrieren sich selbst dank innovativer Features und umfassender Sensorik am optimalen Betriebspunkt und können Packungen in höchster Qualität ohne Anfahrverluste und mit höchstem Bedienkomfort produzieren.
Mit unserem Kundenportal myMULTIVAC bieten wir allen unseren Kunden zudem einen zentralen, digitalen Zugriffsort. Dort können sie nicht nur Ersatzteile und Verbrauchsmaterialien online bestellen, sondern auch ihre komplette Installed Base verwalten und direkt in die Smart Services einsteigen. Dabei sind unsere Smart Services modular aufgebaut und können sukzessive je nach Anforderungen und Investitionsbereitschaft im Unternehmen aktiviert werden.
Verraten Sie uns, wie viele MULTIVAC Maschinen bisher konnektiert wurden?
Die ersten Maschinen haben wir im April 2018 mit unseren Cloud-Lösungen konnektiert. Insbesondere im ersten Halbjahr 2021 gewann das Thema Digitalisierung dann eine enorme Dynamik: Innerhalb eines halben Jahres, von Januar bis Ende Juni 2021, konnten wir die Zahl der angeschlossenen Verpackungsmaschinen mehr als verdoppeln. Unser Ziel ist es, diese Zahl bis Ende des Jahres noch einmal um 50 Prozent zu steigern.
Wie erfolgt die Anbindung bereits vorhandener Maschinen?
Um digitale Services auch bei vorhandenen, dafür geeigneten Maschinen ohne große Anfangsinvestition nutzbar zu machen, haben wir mit dem MULTIVAC Smart Link eine sichere Nachrüstlösung entwickelt. Die zweiteilige Hardware aus Industriecomputer und Internetrouter wird direkt vor Ort beim Kunden in der Maschine installiert. Sie ist zugleich auch die Voraussetzung für Remote Assistance via VPN.
Darüber hinaus haben wir im dritten Quartal 2020 die Vorauswahl dieser Infrastrukturkomponenten beschlossen. Somit wird die Hardware bei größeren Tiefziehverpackungsmaschinen und automatischen Traysealern vorausgewählt, um die Erhöhung an angeschlossen Verpackungsmaschinen zusätzlich zu steigern. Derzeit wird etwa jede fünfte Maschinen, die wir mit dem MULTIVAC Smart Link ausliefern, anschließend auch für die Smart Services genutzt und mit der MULTIVAC Cloud konnektiert.
Für welche Kunden ist Digitalisierung besonders interessant?
Aus unserer Sicht können insbesondere kleinere und mittlere Unternehmen unmittelbar von der Anbindung ihrer Maschinen an die MULTIVAC Cloud sowie die Nutzung der dann verfügbaren Smart Services profitieren. Denn ohne weitere Kosten oder Investitionen in zusätzliche Software lässt sich somit die Produktion automatisiert überwachen und optimieren.
Aber auch für größere Unternehmen bieten sich Vorteile in vielerlei Hinsicht – und dies setzt sich im Markt mittlerweile auch durch: Wir nehmen bei zahlreichen Kunden wahr, dass IT-Expertise bei Maschinenbauern gefragt ist. Die kundengerechte Realisierung von Remote Assistance, die Einbindung der Maschinen in das Kundennetzwerk oder die individuelle Übertragung von Daten etwa an Cloud-2-Cloud oder Edge-2-Cloud sind Dienstleistungen, die wir inzwischen regelmäßig bei unseren größeren Kunden erbringen.
Mit Ihrem Smart Service Portfolio können Sie auf die individuellen Bedürfnisse vieler Kunden eingehen …
Das ist richtig. Hier möchte ich als erstes den MULTIVAC Pack Pilot erwähnen, eine Cloud-basierte Software, die Maschinenbediener bei der optimalen Einstellung der Verpackungsmaschine unterstützt, ohne dass tiefes Expertenwissen erforderlich ist. Diese steht sowohl für die Tiefziehverpackungsmaschine RX 4.0 als auch für die TX Traysealer zur Verfügung – und gewährleistet einen größtmöglichen Ausstoß, eine gleichbleibend hohe Packungsqualität sowie ein Maximum an Prozesssicherheit.
Stark nachgefragt wird heute zudem eine transparente Übersicht über die Produktionsumgebung, wie sie zum Beispiel unser Smart Production Dashboard bietet. Ebenfalls von hohem Interesse ist unser Analyse-Service Smart Log Analyzer, ein intelligentes Werkzeug zur Identifikation von Optimierungspotenzialen. Es liest die Nachrichten- und Fehlerspeicher der Maschine aus, die wir anschließend analysieren. Die Datenerfassung reicht dabei von übergreifenden Informationen wie den Produktivzeiten der Maschine bis hin zu Stillstände verursachenden Einzelereignissen.
Darüber hinaus stehen Kunden weitere Services zur Verfügung. Hierzu zählt unter anderem der Smart OEE Analyzer, ebenfalls ein strategisches Instrument zur Effizienzsteigerung. Der Smart Machine Report wiederum erlaubt schnelle und aussagekräftige Vergleiche und das Smart Data Backup sichert wertvolle Daten, kurz zusammengefasst.
Von welchen Vorteilen profitieren MULTIVAC Kunden dabei am meisten?
Transparente Prozesse und Prozessdaten in Echtzeit leisten einen wichtigen Beitrag zur Effizienz und Wirtschaftlichkeit von Anlagen und Linien. Mit unseren digitalen Produkten und Dienstleistungen bieten wir unseren Kunden deshalb innovative Lösungen für die Überwachung und Optimierung der Produktion – auch standortübergreifend vernetzt und vergleichbar. Einfach, komfortabel und „live“. Dadurch profitieren unsere Kunden in allen operativen und strategischen Belangen gleichermaßen, vom Maschinenbediener bis zum Betriebsleiter.
Welche Services werden MULTIVAC Kunden in Kürze noch zur Verfügung stehen?
Wir arbeiten kontinuierlich an unseren bestehenden Services und entwickeln zudem neue Lösungen für unser Produktportfolio. Ein weiterer Smart Service, den wir bereits ankündigen können, ist der MULTIVAC Watchdog, der die Überwachung des Zustands von Maschinenkomponenten ermöglichen wird. Dabei werden Daten der Maschine live überwacht und die User bei Fehlentwicklungen oder fälligen Instandhaltungsarbeiten über ein Alarmsystem benachrichtigt. Ziel ist es, Stillstandszeiten durch verkürzte Reaktionszeiten zu reduzieren bzw. ganz zu vermeiden – und damit die Prozesszeiten weiter zu optimieren.
Zudem erweitern wir auch die Anzahl der Smart-Service-kompatiblen Maschinentypen in unserem Portfolio stetig: War es anfangs nur ein Maschinentyp, unterstützen wir heute schon mehr als zehn verschiedene Maschinentypen bei der Anbindung an unsere Smart Services. Unser Ziel ist es, neben Einzelmaschinenauswertungen auch Analyse-Mehrwerte auf Gesamtlinienebene für unsere Kunden zu bieten.
Haben Sie in letzter Zeit auch neue Impulse seitens der Kunden erhalten?
Seit dem Beginn unserer Digitalisierungsinitiative im Jahr 2017 arbeiten wir sehr eng mit unseren Kunden zusammen, um möglichst frühzeitig Kundenfeedback in die weitere Entwicklung einfließen zu lassen. So halten wir regelmäßig sogenannte Customer Reviews ab und geben damit unseren Kunden die Gelegenheit, ihre Meinung zu neuen Funktionen oder Diensten mit uns zu teilen.
Darüber hinaus lernen wir bei jedem Besuch in den Unternehmen, indem wir die Abläufe und Bedürfnisse in den Produktionsumgebungen wahrnehmen. Auf diesem Weg haben uns unsere Kunden bereits vielfach inspiriert – sie sind also eine wesentliche Quelle für die Weiterentwicklung unserer Produkte. Unser Smart Service „Smart Production Dashboard“ orientiert sich beispielsweise im Wesentlichen an den Anforderungen mehrerer Kunden.
Dennoch haben wir als MULTIVAC natürlich auch den Ansporn, mit unseren Lösungen immer eine Nasenlänge voraus zu sein und auch unseren Kunden wertvolle Impulse zu geben. Unser Production Flow im Smart Log Analyzer war beispielsweise eine solche von uns getriebene Innovation, die heute ebenfalls starken Anklang bei optimierungsgetriebenen Kunden findet.
Was ist Ihnen zum Abschluss des Gesprächs noch besonders wichtig zu erwähnen, Herr Dr. Grathwohl?
Digitalisierung ist gerade in der aktuellen Zeit von großer Bedeutung. Denn virtuelle und hybride Zusammenarbeit werden durch digitale Tools nicht nur im Büro, sondern auch in Fertigungsumgebungen ermöglicht. Mit unseren Smart Services bieten wir Servicetechnikern und Kunden gleichermaßen die Möglichkeit, die Produktivität durch Datenanalysen und die Zusammenarbeit mit MULTIVAC zu intensivieren, ohne dafür Präsenzmeetings durchführen zu müssen. Unsere Kunden profitieren daher doppelt von der Anbindung ihrer Maschinen an unsere MULTIVAC Cloud. Zum einen können sie selbst schnell und unkompliziert auf die Daten und Informationen der Maschinen zugreifen. Zum anderen teilen sie die Daten mit dem MULTIVAC Service, so dass dieser schneller und zielgerichteter agieren oder auch pro-aktiv zur Problemvermeidung beitragen kann.
10.10.2021
